Herausforderungen und Chancen im Umgang mit Autoimmunerkrankungen

Dr. med. S. Taleh
Facharzt für Innere Medizin
December 6, 2024
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chronische Erkrankungen
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Autoimmunerkrankungen – Komplexe Herausforderungen für unsere Gesundheit

Unser Immunsystem ist ein Meisterwerk der Evolution. Tag für Tag schützt es uns vor unzähligen Bedrohungen. Es ist ein komplexes Netzwerk aus Zellen, Geweben und Organen, das schädliche Eindringlinge wie Bakterien, Viren und Parasiten erkennt und bekämpft. Doch manchmal kann dieses feinjustierte System aus dem Gleichgewicht geraten und sich gegen uns selbst wenden. Diese Fehlfunktion nennen wir Autoimmunerkrankung. Aber was genau passiert dabei in unserem Körper? Und wie können wir uns davor schützen?

Wenn das Immunsystem außer Kontrolle gerät

Bei einer Autoimmunerkrankung greift das Immunsystem fälschlicherweise körpereigenes Gewebe an. Normalerweise kann unser Abwehrsystem zwischen eigenen Zellen und fremden Eindringlingen unterscheiden. Bei Autoimmunerkrankungen funktioniert diese Unterscheidung jedoch nicht mehr korrekt. Das Immunsystem sieht die eigenen Zellen als Bedrohung an und produziert Antikörper gegen sie. Diese Antikörper greifen dann gesundes Gewebe an, was zu Entzündungen und Schäden führt. Dies kann jedes Organ betreffen – von der Haut bis zu den Gelenken. Die Folgen sind oft gravierend: Chronische Entzündungen entstehen, die langfristig die Lebensqualität und sogar die Lebenserwartung beeinträchtigen können (Miller-Archie et al., 2020).

Aber warum sind nur ein Teil der Menschen davon betroffen und nicht alle?
Die Ursachen dafür sind vielfältig und komplex. Genetische Veranlagungen spielen eine wichtige Rolle. Bestimmte Gene können die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Immunsystem fehlgesteuert reagiert. Doch Gene allein erklären das Phänomen nicht vollständig. Umweltfaktoren wie Stress, bestimmte Infektionen oder toxische Substanzen können als Auslöser wirken. Ein weiterer wichtiger Faktor sind sogenannte epigenetische Veränderungen. Dabei handelt es sich um chemische Modifikationen der DNA oder der Proteine, die die DNA umgeben und so die Genaktivität beeinflussen, ohne die DNA-Sequenz selbst zu ändern. Diese Veränderungen können durch Umweltfaktoren oder den Lebensstil beeinflusst werden und tragen dazu bei, wie aktiv bestimmte Gene sind und wie das Immunsystem reagiert (Zachou et al., 2021).

Risikofaktoren: Geschlecht, Alter und Lebensumstände

Abbildung 1:
Flussdiagramm der Studienpopulation mit Anzahl der Teilnehmer und Ausschlusskriterien. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7216890

Frauen sind häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen als Männer. Hormone wie Östrogen könnten das Immunsystem beeinflussen und es anfälliger für Autoimmunreaktionen machen. Zudem verändert sich das Immunsystem mit dem Alter; je älter wir werden, desto höher ist das Risiko für Fehlregulationen. Studien zeigen auch einen Zusammenhang mit dem Bildungsniveau. Menschen mit niedrigerem Bildungsstand erkranken häufiger – möglicherweise aufgrund von erhöhtem Stress oder Umweltbelastungen in bestimmten Berufsfeldern (Miller-Archie et al., 2020).

Die Studie von Miller-Archie et al. (2020) untersuchte beispielsweise eine große Gruppe von Erwachsenen, die den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgesetzt waren, um Zusammenhänge zwischen Umweltbelastungen und dem Auftreten von Autoimmunerkrankungen zu analysieren. Das folgende Flussdiagramm (Abbildung 1) zeigt die Zusammensetzung der Studienpopulation und die Ausschlusskriterien.

Vielfältige Erscheinungsformen von Autoimmunerkrankungen

Autoimmunerkrankungen können sehr unterschiedlich auftreten. Manche betreffen den ganzen Körper, andere nur einzelne Organe. Systemische Erkrankungen wie Lupus erythematodes betreffen mehrere Organe gleichzeitig und können Haut, Gelenke, Nieren und das Nervensystem angreifen. Rheumatoide Arthritis führt zu Entzündungen der Gelenke, was Schmerzen und Verformungen verursacht. Organspezifische Erkrankungen konzentrieren sich auf bestimmte Körperregionen. Bei Typ-1-Diabetes zerstört das Immunsystem die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse, während Multiple Sklerose die Schutzhüllen der Nerven im Gehirn und Rückenmark angreift, was zu vielfältigen neurologischen Symptomen führt (Gao et al., 2023).

Herausforderungen bei der Diagnose
Die Diagnose von Autoimmunerkrankungen ist oft schwierig, da die Symptome unspezifisch und vielfältig sein können. Chronische Müdigkeit, Gelenkschmerzen oder Hautausschläge könnten auf verschiedene Krankheiten hindeuten und sind nicht spezifisch für Autoimmunität. In der DIagnostik verwendet man daher aher eine Kombination aus klinischen Untersuchungen, Labortests und bildgebenden Verfahren. Blutuntersuchungen suchen nach spezifischen Autoantikörpern, die gegen körpereigene Strukturen gerichtet sind. So können antinukleäre Antikörper (ANA) ein Hinweis auf Lupus sein. Bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie (MRT) können Entzündungen oder Gewebeschäden sichtbar machen, beispielsweise bei Multiple Sklerose. In einigen Fällen ist eine Biopsie notwendig, um Gewebe unter dem Mikroskop zu untersuchen und eine eindeutige Diagnose zu stellen (Wu et al., 2018).

Behandlung: Ein Balanceakt zwischen Wirkung und Nebenwirkungen

Die Therapie von Autoimmunerkrankungen erfordert ein sensibles Gleichgewicht. Das Ziel ist es, die überschießende Immunreaktion zu dämpfen, ohne den Körper schutzlos gegenüber Infektionen zu machen. Kortisonpräparate werden häufig eingesetzt, um akute Entzündungen zu lindern, da sie schnell und effektiv wirken. Sie können jedoch bei langfristiger Anwendung Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme oder Osteoporose verursachen. Für die langfristige Behandlung kommen oft Immunsuppressiva wie Methotrexat oder Azathioprin zum Einsatz, die gezielt bestimmte Teile des Immunsystems unterdrücken. Die Dosierung muss sorgfältig angepasst werden, um Nebenwirkungen zu minimieren und die bestmögliche Wirkung zu erzielen (Gallo et al., 2024).

Innovative Therapieansätze bieten neue Hoffnung
Neue Therapieansätze versprechen präzisere und effektivere Behandlungen. Biologika sind biotechnologisch hergestellte Medikamente, die spezifische Moleküle des Immunsystems blockieren. Dadurch lassen sich Immunreaktionen gezielter beeinflussen und Nebenwirkungen reduzieren. So können beispielsweise TNF-Alpha-Inhibitoren entzündungsfördernde Signalstoffe hemmen und werden erfolgreich bei rheumatoider Arthritis eingesetzt.
Auch Gentherapien rücken in den Fokus der Forschung. Sie zielen darauf ab, defekte Gene zu reparieren oder zu ersetzen und so die Ursache der Erkrankung direkt zu behandeln. Dies könnte langfristig eine Heilung ermöglichen, ist jedoch noch Gegenstand intensiver Forschung und klinischer Studien (Adams und Levin, 2013).

Prävention: Der beste Schutz beginnt bei uns selbst

Vorbeugen ist besser als heilen – diese Weisheit gilt auch bei Autoimmunerkrankungen. Eine gesunde Lebensweise kann das Risiko deutlich senken. Eine ausgewogene Ernährung mit reichlich Obst, Gemüse und Vollkornprodukten liefert wichtige Nährstoffe wie Spurenelemente, Vitamine und Antioxidantien. Omega-3-Fettsäuren, die in fettem Fisch, Leinsamen und Walnüssen vorkommen, haben entzündungshemmende Eigenschaften und können das Immunsystem positiv beeinflussen (Miller-Archie et al., 2020).

Regelmäßige Bewegung fördert nicht nur die allgemeine Gesundheit, sondern stärkt auch das Immunsystem. Stressmanagement ist ein weiterer wichtiger Baustein. Chronischer Stress kann das Immunsystem aus dem Gleichgewicht bringen und Autoimmunreaktionen begünstigen. Stressreduktion durch Meditation, Yoga oder Atemübungen helfen, den chronischen Stresspegel zu senken durch Reduktion der sympathischen Aktivität. Ausreichend Schlaf ist ebenfalls essenziell für ein starkes Immunsystem, den Abbau der Stoffwechselmetabolite und zur Stressreduktion.

Ein Faktor der zunehmend in das Bewusstsein der Ärzte rückt, sind Umweltgifte. Studien zeigen, dass sie Autoimmunreaktionen auslösen können. Dazu zählen Schwermetalle, organische Lösungsmittel, Pestizide und Herbizide, Luftschadstoffe, Kunststoffe und Additive, infektiöse Umweltfaktoren, Kosmetika und Lebensmittelzusatzstoffe. Durch erhöhte Achtsamkeit und zusätzlich unter anderem die Verwendung natürlicher Reinigungsmittel, Konsum von Bio-Lebensmitteln und entsprechende Wasserfilässt sich die Schadstoffbelastung reduzieren.

Neue Erkenntnisse über die molekularen Mechanismen von Autoimmunerkrankungen zeigen interessante Therapiemöglichkeiten auf. Besonders spannend ist die Erforschung der Autophagie – ein Prozess, bei dem Zellen eigene Bestandteile abbauen und recyceln. Dieser Prozess spielt eine wichtige Rolle bei der Zellgesundheit und der Regulierung des Immunsystems (Acta Pharm Sin B, 2021). Dysfunktionen in der Autophagie können zur Akkumulation von fehlerhaften Proteinen führen, die Autoimmunreaktionen auslösen.

Abbildung 2: Auswirkungen der Autophagie auf autoimmune Erkrankungen. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8642426

Autophagie lässt sich durch Fastenperioden induzieren aber auch kleine Moleküle wie Spermidin und Resveratrol zeigen vielversprechende Wirkungen. Sie können die Autophagie stimulieren und so möglicherweise Autoimmunreaktionen vorbeugen. Spermidin findet sich in Lebensmitteln wie Weizenkeimen, während Resveratrol in roten Trauben und Beeren enthalten ist. Die Aufnahme solcher Substanzen über die Nahrung oder als Nahrungsergänzungsmittel könnte künftig eine einfache Möglichkeit sein, das Risiko für Autoimmunerkrankungen zu senken (Acta Pharm Sin B, 2021).

Fazit

Autoimmunerkrankungen sind komplex und stellen eine Herausforderung für Betroffene und Medizin dar. Doch je mehr wir darüber wissen, desto besser können wir uns schützen. Eine gesunde Lebensweise mit ausgewogener Ernährung, regelmäßiger Bewegung und Stressmanagement ist der beste Schutz. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen helfen, erste Anzeichen früh zu erkennen und rechtzeitig zu handeln. Und sollte es doch zu einer Erkrankung kommen, stehen heute viele effektive Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Innovative Therapien und ein besseres Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen versprechen bessere Behandlungsmöglichkeiten mit weniger Nebenwirkungen. Ein bewusster Lebensstil liegt in der Regel in unserer eignen Hand, dadurch kann man dazu beitragen, sein Risiko für Autoimmunerkrankungen zu senken.

Quellen:

1. Miller-Archie, S. A., et al. (2020). Systemic Autoimmune Disease Among Adults Exposed to the September 11, 2001 Terrorist Attack. Arthritis Rheumatol, 72(5), 849-859. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7216890

2. Zachou, K., et al. (2021). Impact of genetic and environmental factors on autoimmune hepatitis. J Transl Autoimmun, 4, 100125. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8479787

3. Gao, Z., et al. (2023). Global research hotspots and frontier trends of epigenetic modifications in autoimmune diseases: A bibliometric analysis from 2012 to 2022. Medicine (Baltimore), 102(39), e35221. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC10545364

4. Wu, H., et al. (2018). Epigenetic Regulation in B-Cell Maturation und Its Dysregulation in Autoimmunity. Cell Mol Immunol, 15(7), 676-684. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6123435

5. Gallo, A., et al. (2024). Autoimmune pancreatitis: Cornerstones and future perspectives. World J Gastroenterol, 30(8), 817-832. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC10950636

6. Adams, N. M., & Levin, S. D. (2013). Immunologic innovations in autoimmune diseases. Immunol Res, 55(1-3), 135-145. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3869307

7. Acta Pharm Sin B. (2021). Pharmacological insights into autophagy modulation in autoimmune diseases. Acta Pharm Sin B, 11(11), 3364-3378. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8642426

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