Aminosäuren als elementare Bausteine

Dr. med. S. Taleh
Facharzt für Innere Medizin
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Ernährung
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Aminosäuren: Die Grundbausteine unserer Gesundheit

Aminosäuren sind mehr als nur Bausteine von Proteinen – sie sind essenziell für nahezu jeden Prozess in unserem Körper. Von der Reparatur des Gewebes über die Immunabwehr bis hin zur Synthese von Neurotransmittern in unserem Gehirn – ohne Aminosäuren funktioniert nichts. Doch was passiert, wenn unser Körper nicht genug dieser lebenswichtigen Moleküle hat? Welche Folgen haben Störungen im Aminosäure-Stoffwechsel? Und wie können wir vorbeugen und behandeln?
Dieser Artikel bietet einen umfassenden Einblick in das Thema Aminosäuren und ihre entscheidende Rolle für unsere Gesundheit.


Die Basis unseres Stoffwechsels

Aminosäuren sind organische Verbindungen, bestehend aus einer Aminogruppe und einer Carboxylgruppe, verbunden durch einen variablen Seitenrest, der jede Aminosäure einzigartig macht. Sie verbinden sich über Peptidbindungen zu langen Ketten und bilden so Proteine –komplexe Moleküle, die als Enzyme, Hormone, Antikörper und strukturelle Komponenten fungieren. Unser Körper benötigt 20 verschiedene Aminosäuren, um all seine Funktionen aufrechtzuerhalten. Neun davon sind essenziell: Histidin, Isoleucin, Leucin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Threonin,Tryptophan und Valin.
Diese müssen wir über die Nahrung aufnehmen, da unser Organismus sie nicht selbst herstellen kann. Eine ausgewogene Zufuhr dieser Aminosäuren ist entscheidend für die Proteinsynthese, das Immunsystem und zahlreiche andere lebenswichtige Prozesse. Ohne sie können wichtige Prozesse wie Gewebereparatur, Nährstofftransport und Enzymproduktion nicht korrekt ablaufen.

Nehmen wir Leucin als Beispiel. Diese verzweigtkettige Aminosäure (BCAA) wird direkt im Muskelgewebe metabolisiert und spielt eine zentrale Rolle beim Muskelerhalt und der Regeneration. Leucin aktiviert den mTOR-Signalweg, der das Zellwachstumund die Proteinsynthese steuert. Eine ausreichende Versorgung mit Leucin hilft besondersbei aktiven Menschen oder im Alter, den natürlichen Muskelabbau zu verlangsamen(Kimball und Jefferson, 2010).

Ähnlich bedeutend ist Glutamin, eine nicht essenzielle Aminosäure, die unter bestimmten Bedingungen, wie Stress oder Krankheit, essenziell werden kann Glutamin unterstützt die Darmgesundheit und das Immunsystem, indem es als Energiequelle für Immunzellen und Darmepithelzellen dient. Es hilft die Integrität der Darmbarriere aufrechtzuerhalten und spielt eine Rolle bei der Regulierung von Entzündungsprozessen.

Abbildung 1:

Elemente der Aminosäurehomöostase. Diese Abbildung veranschaulicht die verschiedenen Prozesse zur Aufrechterhaltung des Aminosäuregleichgewichts im Körper, einschließlich Import und Export, Metabolismus, Synthese, Proteinsynthese und Abbau. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8754572


Wenn das Gleichgewicht gestört ist

Ein Ungleichgewicht imAminosäurehaushalt kann gravierende Folgen haben.
Aminosäuremängel und -störungen sind weltweit verbreitet, besonders in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Dort haben viele Menschen eingeschränkten Zugang zu proteinreicher Nahrung, was besonders Kinder und ältere Menschen betrifft (Bröer undGauthier-Coles, 2022).

Ein bekanntes Beispiel ist Kwashiorkor (Hungerödem), eine schwere Form der Mangelernährung, die etwa 2–5 %der Kinder in Subsahara-Afrika betrifft. Trotz ausreichender Kalorienzufuhr fehlt es an Proteinen. Symptome sind Ödeme, Appetitlosigkeit, Reizbarkeit und eine vergrößerte Leber. Ohne ausreichende Proteine kann der Körper keine neuen Zellen und Gewebe bilden, was das Immunsystem schwächt und die Entwicklung von Kindern erheblich verzögert. Neben Mangelernährung gibt es auch angeborene Stoffwechselstörungen wie Phenylketonurie (PKU) und die Ahornsirupkrankheit (Maple Syrup Urine Disease, MSUD). Bei PKU fehlt dem Körper das Enzym Phenylalaninhydroxylase, das Phenylalanin in Tyrosin umwandelt. Die Anhäufung von Phenylalanin kann zu schweren neurologischen Schäden führen, einschließlich geistiger Behinderung und Krampfanfällen (Williams et al.,2008). Eine frühzeitige Diagnose und eine phenylalaninarme Diät können jedoch schwere Symptome verhindern.

Die Ahornsirupkrankheit betrifft den Abbau der verzweigtkettigen Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin.A ufgrund eines Enzymdefekts reichern sich diese Aminosäuren und ihre toxischen Abbauprodukte im Körper an, was zu neurologischen Schäden und, unbehandelt, zum Tod führen kann (Bröer und Fairweather, 2018). Der Name leitet sich vom charakteristischen süßlichen Geruch des Urins betroffener Personen ab. Eine spezialisierte Diät und regelmäßige medizinische Überwachung sind entscheidend für die Behandlung.

  

Die Auswirkungen auf den Körper

Ein Ungleichgewicht von Aminosäurenbeeinträchtigt nicht nur die Proteinproduktion, sondern kann auch wichtige Stoffwechselprozesse stören. Die Leber spielt eine zentrale Rolle beim Abbau überschüssiger Aminosäuren und der Entgiftung von Stickstoffverbindungen. Überschüssiger Stickstoff wird in Harnstoff umgewandelt und über den Urin ausgeschieden. Dieser Prozess, bekannt als Harnstoffzyklus, ist essentiell, um toxischeStickstoffverbindungen im Körper zu vermeiden.

Der Aminsosäurestoffwechsel wird auch durch Hormone beeinflusst. Eines welches nur wenige damit in Verbindung bringen, ist das Glukagon, ein in den Alpha-Zellen der Bauchspeicheldrüse produziertes Hormon. Es fördert den Abbau von Aminosäuren in der Leber und stimuliert die Harnstoffbildung (Morris,2002).
Vielen ist bekannt: Es hilft dabei, den Blutzuckerspiegel zu regulieren, aber zusätzlich sorgt es für ein Gleichgewicht im Aminosäurestoffwechsel. Bei Erkrankungen wie der nicht-alkoholischen Fettlebererkrankung (NAFLD) kann die Fähigkeit der Leber, auf Glukagon zu reagieren, beeinträchtigt sein. (NAFLD ist gekennzeichnet durch die Ansammlung von Fett in der Leber, was zu Entzündungen und Leberschäden führen kann.) Eine gestörte Glukagonantwort führt in diesem Fall dann zu erhöhten Spiegeln von Glukagon und Aminosäuren im Blut (Winther-Sørensen etal., 2020), die dann Schäden im Körper anrichten.

Die Folgen eines solchen Aminosäureungleichgewichts sind weitreichend: Wachstumsstörungen, neurologischeDefizite und Organdysfunktionen können auftreten. Ein chronisch erhöhter Aminosäurespiegel kann zu einer Vergrößerung der Alpha-Zellen führen, was die Hormonproduktion weiter stört (Gelling et al., 2003). Auf zellulärer Ebene können solche Ungleichgewichte die Synthese von Neurotransmittern beeinflussen und möglicherweise zu kognitiven Defiziten führen.

Diagnose und Behandlung

Die frühzeitige Erkennung von Aminosäurestörungen ist entscheidend für eine wirksame Behandlung. Ärzte nutzen dazu verschiedene Diagnoseverfahren. Blutuntersuchungen können die Konzentrationen einzelner Aminosäuren messen und helfen, Ungleichgewichte zu identifizieren (Liu et al., 2020). Urinanalysen ermöglichen den Nachweis von Abbauprodukten, die auf Stoffwechselstörungen hinweisen. Besonders bei Neugeborenen sind Screening-Programme von großer Bedeutung, um angeborene Stoffwechselerkrankungen wie PKU oder MSUD frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.

Die genetische Diagnostik gewinnt zunehmend an Bedeutung. Durch Gentests lassen sich Mutationen in Genen feststellen, die für Enzyme des Aminosäurestoffwechsels kodieren. Diese Informationen sind wertvoll für die Planung gezielter Therapiemaßnahmen und können Familien bei der genetischen Beratung unterstützen.
Die Behandlung von Aminosäurestörungen umfasst verschiedene Ansätze. Eine zentrale Rolle spielt die diätetische Therapie. Bei PKU zum Beispiel wird die Aufnahme von Phenylalanin drastisch reduziert, um die Ansammlung toxischer Stoffwechselprodukte zu verhindern (Williams et al., 2008). Speziell formulierte medizinische Lebensmittel und Aminosäurepräparate helfen, den Nährstoffbedarf zu decken, ohne schädliche Aminosäuren zuzuführen (Zielke et al., 2002).
Parallel dazu werden innovative Therapien erforscht. Die Gentherapie zielt darauf ab, genetische Defekte direkt zu korrigieren und so eine langfristige Lösung zu bieten (Liu und Sabatini, 2020). Obwohl sich diese Technologien noch in der Entwicklungsphase befinden, bieten sie vielversprechende Perspektiven für die Zukunft.


Prävention und Zukunftsperspektiven

Vorbeugung ist der Schlüssel zu einem gesunden Aminosäurehaushalt. Eine ausgewogene Ernährung, die reich an Proteinen aus verschiedenen Quellen ist, stellt sicher, dass der Körper alleessenziellen Aminosäuren erhält. Tierische Produkte wie Fleisch, Fisch, Eier und Milchprodukte liefern vollständige Proteine. Vegetarier und Veganer können durch die Kombination verschiedener pflanzlicher Proteinquellen, wie Getreide und Hülsenfrüchte, ihren Bedarf decken. Ernährungsbildung und Zugang zu proteinreichen Lebensmitteln sind entscheidend, um Mangelernährung zu bekämpfen. Die Zukunft der Behandlung von Aminosäurestörungen liegt in personalisierten

Therapien. Innovative Technologienwie CRISPR ermöglichen es, genetische Defekte präzise zu korrigieren (Liu undSabatini, 2020). Dies könnte eine dauerhafte Heilung für genetisch bedingte Stoffwechselstörungen bieten. Ein vielversprechender Ansatz ist die Modulation des mTORC1-Signalwegs, einer zentralen Schaltstelle für das Zellwachstum, die auf die Verfügbarkeit von Aminosäuren reagiert (Valvezan undManning, 2019).

Forscher wie Calvo et al. (2021) haben gezeigt, dass der Folliculin-Komplex eine Rolle bei der Regulation dieses Pfades spielt, indem er auf die An- oder Abwesenheit von Aminosäuren reagiert. Wenn Aminosäuren knapp sind, lokalisiert der Folliculin-Komplex zu bestimmten Bereichen in der Zelle und beeinflusst die Aktivität von mTORC1. Diese Erkenntnisse könnten zu neuen therapeutischen Ansätzen für Erkrankungen wie Krebs führen, bei denen die Regulierung des Zellwachstums gestört ist.

 

Abbildung 2:

Der Folliculin-Komplex und seine Rolle im mTORC1-Signalweg. Die Abbildung zeigt, wie der Folliculin-Komplex bei Aminosäuremangel zu den Vakuolen wandert und die Aktivierung von mTORC1 bei erneuter Aminosäurezufuhr verstärkt. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8590082

Fazit

Aminosäuren sind fundamentale Bausteine des Körpers. Ein ausgewogenes Aminosäuregleichgewicht ist entscheidend für Gesundheit und Wohlbefinden. Die Auswirkungen von Mängeln oder Störungen im Aminosäurestoffwechsel können gravierend sein, von Entwicklungsverzögerungen bis hin zu schweren Stoffwechselerkrankungen.

Dank wissenschaftlicher Fortschritte verstehen wir heute besser denn je die Bedeutung von Aminosäuren und ihren Einfluss auf den menschlichen Körper. Prävention, frühzeitige Diagnose und individuelle Behandlungsansätze sind entscheidend, um Betroffenen zu helfen. Die Zukunft verspricht innovative Therapien, die auf den individuellen genetischen und metabolischen Profilen basieren.

 

Quellen:

1. Bröer, S., & Gauthier-Coles, G. (2022). AminoAcid Homeostasis in Mammalian Cells with a Focus on Amino Acid Transport. Nutrients,14(4), 743. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8754572
2. Bröer, S., & Fairweather, S. J. (2018). AminoAcid Transport Across the Mammalian Intestine. Comprehensive Physiology, 9(1),343-373.
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